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    <title>pt17.html</title></head><body><div class="part WordXML" id="pt17"><div class="chapter"><h1 class="ueberschrift1" id="id0000032">Der Fall Witschi zum dritten und vorletzten Male</h1><div class="section"><p class="TkOhne">Hinter allem habe der alte Ellenberger gesteckt ... &#0187;Das ist der Baumschulenbesitzer in Gerzenstein&#0171;, warf Studer ein.</p><p class="standard">&#0187;Woher wissen Sie das?&#0171; fragte der Untersuchungsrichter.</p><p class="standard">&#0187;Der Vater hat&#8217;s mir erz&#0228;hlt. Vor vierzehn Tagen, das wei&#0223; ich noch genau. Wir sind zusammen spazieren gegangen, es war ein Sonntag, sch&#0246;n war&#8217;s. Wir sind durch den Wald gelaufen. Der Vater hat gesagt, er halte es daheim nicht mehr aus, die Mutter qu&#0228;le ihn so, und auch der Armin, wegen der Versicherung, die er verpf&#0228;ndet habe, und da habe der Vater gesagt, hinter allem stecke der alte Ellenberger. Der reize die Mutter immer auf.&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Versicherung?&#0171; fragte der Untersuchungsrichter. &#0187;Wissen Sie, die Heftli! ...&#0171; sagte Studer, als ob damit alles erkl&#0228;rt w&#0228;re. &#0187;Und ...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Und dann haben wir auch noch eine Unfall- und Lebensversicherung bei einer Gesellschaft gehabt ...&#0171; Studer unterbrach wieder:</p><p class="standard">&#0187;Und die war dem alten Ellenberger f&#0252;r f&#0252;nfzehntausend Franken verpf&#0228;ndet worden, nicht wahr?&#0171;</p><p class="standard">Sonja nickte.</p><p class="standard">&#0187;Das war vor zwei Jahren&#0171;, sagte sie. &#0187;Damals hat das ganze Ungl&#0252;ck begonnen. Das Verm&#0246;gen der Mutter war in fremden Aktien angelegt, ich wei&#0223; nicht mehr, wie sie gehei&#0223;en haben, sie haben viel Zinsen gebracht ...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Dividenden ausgezahlt...&#0171; stellte der Untersuchungsrichter fest.</p><p class="standard">&#0187;Ja, und dann sind die Papiere keinen Rappen mehr wert gewesen. Da hat der Vater seine Lebensversicherung genommen und hat sie beim Ellenberger verpf&#0228;ndet.</p><p class="standard">Damals war der Vater viel mit dem Schwomm zusammen, mit dem Lehrer Schwomm. Der Lehrer Schwomm hat einen Verwandten gehabt im Elsa&#0223;. Und der war bei einer Gesellschaft, einer deutschen, die versprach io % Zinsen. Ja, ich glaub&#8217;, so war es. Und der Vater war so froh, er sagte noch, jetzt k&#0246;nne er das verlorene Geld wieder zur&#0252;ckgewinnen und ist zum Ellenberger gegangen und hat auf seine Versicherung Geld aufgenommen. Das Geld hat der Verwandte vom Lehrer eingesteckt und ist damit nach Deutschland gefahren ... Aber wir haben nie wieder etwas von ihm geh&#0246;rt &#8210; vom Geld mein&#8217; ich. Der Mann ist in Basel verhaftet worden. Er hat nicht nur in Gerzenstein die Leute betrogen, auch in den St&#0228;dten. Die Gesellschaft hat schon bestanden, in Deutschland, er aber hat gar nichts mit ihr zu tun gehabt. Der Lehrer Schwomm hat den Vater gebeten, nichts von der Sache zu erz&#0228;hlen. Und der Vater hat auch geschwiegen ...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Ich glaube, diese ganze Geschichte brauchen wir nicht ins Protokoll aufzunehmen, Herr Studer&#0171;, sagte der Untersuchungsrichter.</p><p class="standard">&#0187;Gewi&#0223;, gewi&#0223; ...&#0171; antwortete Studer, dr&#0252;ckte ein paarmal auf den Umschalter und faltete dann die H&#0228;nde. &#0187;Jetzt ist es ganz b&#0246;s geworden&#0171;, erz&#0228;hlte Sonja weiter. &#0187;Es war kaum mehr auszuhalten daheim. Kein Geld, viel Schulden ... Der Armin, der nicht weiter studieren konnte und jeden Tag h&#0228;ssiger wurde, die Mutter, die vom Morgen bis zum Abend klagte ... Damals kam der Onkel Aeschbacher oft. Er konnte sehr lieb sein, der Onkel Aeschbacher. Ich hatte ihn fast so gern wie den Vater. Als er sah, da&#0223; ich immer trauriger wurde, verschaffte er mir die Stelle in Bern. Die Mutter bekam den Zeitungskiosk. Mit dem Vater kam der Onkel nicht gut aus. Ich wei&#0223; selbst nicht, warum. Und der Vater beobachtete ihn immer, so heimlich; manchmal hatte ich Angst. F&#0252;r wen? Ich wei&#0223; es selbst nicht ... Er ist ein kurioser Mann, der Onkel Aeschbacher ...&#0171; wiederholte Sonja und schwieg einen Augenblick.</p><p class="standard">&#0187;Gew&#0246;hnlich kam der Onkel Aeschbacher am Abend. Dann war ich allein zu Hause. Die Mutter mu&#0223;te im Kiosk bleiben bis zum letzten Zug, um neun Uhr, der Vater kam auch sp&#0228;t und der Armin ... Mit dem Armin war schlecht auszukommen.&#0171;</p><p class="standard">Schweigen. Der gro&#0223;e Wind vor den Fenstern war still geworden. Das Licht im Zimmer war grau.</p><p class="standard">&#0187;Die andern im Dorf haben das nie gewu&#0223;t&#0171;, sagte Sonja und ihre Stimme war leise, &#0187;aber der Onkel Aeschbacher war ein ungl&#0252;cklicher Mann. Ich hab&#8217; es gewu&#0223;t. Und ich hab&#8217; ihn gern gehabt, obwohl er den Vater nicht hat leiden k&#0246;nnen. Auch der Vater...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Ja, ja, schon gut&#0171;, sagte der Untersuchungsrichter und man merkte es ihm an, da&#0223; er ungeduldig wurde. &#0187;Mich interessiert am meisten, was am Abend des Mordes passiert ist!&#0171;</p><p class="standard">Sonja blickte auf, sie sah den Untersuchungsrichter vorwurfsvoll an und dann sagte sie mit einer Stimme, die stark an die ihrer Mutter erinnerte:</p><p class="standard">&#0187;Ich mu&#0223; von dem, was fr&#0252;her geschehen ist, doch auch erz&#0228;hlen, sonst kommt Ihr ja nicht nach!&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Sowieso&#0171;, meinte Studer, &#0187;nur erz&#0228;hlen lassen. Wir haben ja Zeit. Schlumpfli, eine Zigarette?&#0171;</p><p class="standard">Der Bursche Schlumpf nickte. Sonja erz&#0228;hlte weiter.</p><p class="standard">&#0187;Vor einem halben Jahr etwa ist zwischen dem Vater und dem Onkel Aeschbacher alles anders geworden. Es sah so aus, als ob der Onkel vor dem Vater Angst h&#0228;tte. Das war...&#0171; Sonja stockte, &#0187;das war nach einem Abend...&#0171; Sonja wurde rot und und schielte zu Schlumpf hin&#0252;ber. Der stand aufrecht da, rauchte schweigend, sichtlich aufgeregt und nahm tiefe Lungenz&#0252;ge...</p><p class="standard">&#0187;An einem Abend, da war ich allein mit dem Onkel Aeschbacher. Er war traurig. Es war Anfang Dezember. Drau&#0223;en war&#8217;s dunkel. Ich hab&#8217; die Lampe anz&#0252;nden wollen. Da sagt der Onkel Aeschbacher: &#8250;La&#0223; die Lampe, Meitschi, mir tun die Augen weh.&#8249; Dann schweigt er und h&#0228;lt seine dicke Hand wie einen Schirm &#0252;ber die Augen.</p><p class="standard">Ich sa&#0223; am Tisch. &#8250;Es geht alles schief. Sie haben mich nicht in die Kommission gew&#0228;hlt ...&#8249; In welche Kommission? hab&#8217; ich gefragt. &#8250;Ah, das verstehst du nicht&#8249;, sagt er drauf. Und ich soll ein wenig zu ihm kommen. Er sa&#0223; in einem tiefen Lehnstuhl, ganz in einer finsteren Ecke. Ich bin hingegangen, er hat mich auf seine Knie genommen und mich festgehalten. Ich hab&#8217; gar keine Angst gehabt, denn er ist immer gut zu mir gewesen, der Onkel Aeschbacher.&#0171;</p><p class="standard">Seufzer.</p><p class="standard">&#0187;Da pl&#0246;tzlich ist die T&#0252;r aufgerissen worden, das Licht ist angegangen. In der T&#0252;r steht der Vater und der Armin. &#8250;So&#8249;, sagt der Vater, &#8250;hab&#8217; ich dich endlich erwischt, Aeschbacher. Was f&#0228;llt dir ein, meine Tochter zu karessieren?&#8249; Der Onkel hat mich weggesto&#0223;en, ist aufgesprungen: &#8250;Du bist besoffen, Witschi!&#8249; hat er gesagt. Und dann hat er mich fortgeschickt. Mehr hab&#8217; ich nicht h&#0246;ren k&#0246;nnen. Sie sind dann noch etwa eine Stunde beisammen gesessen. Der Armin war auch dabei. Von dieser Zeit an hat der Onkel kaum mehr mit mir gesprochen. Aber mit dem Vater ist es,immer schlimmer geworden, der alte Ellenberger von der Baumschule hat ihm Papiere gegeben, die hat er in Bern umgewechselt. Dann verschwand der Vater immer auf eine Woche oder zwei aus Gerzenstein, kam dann wieder, m&#0252;d, traurig. Wenn ich ihn fragte, wo er gewesen sei, sagte er nur: &#8250;In Genf.&#8249; Einmal hab&#8217; ich den Vater zuf&#0228;llig in Bern getroffen. Auf der Hauptpost. Ich hab&#8217; ein pressantes Paket f&#0252;rs Gesch&#0228;ft aufgeben m&#0252;ssen. Er hat mich nicht gesehen. Er stand vor einem Postfach, nahm Briefe heraus, ri&#0223; die Kuverts auf und warf sie dann weg. Er sah traurig aus, der Vater, er ging aus der Halle wie ein alter Mann. Ich hab&#8217; dann ein Kuvert, das er weggeworfen hat, aufgelesen. Es kam von einer Bank in Genf.&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Spekuliert, weiter spekuliert ...&#0171;, sagte Studer leise und der Untersuchungsrichter nickte.</p><p class="standard">Man kann den Wendelin entschuldigen, dachte Studer. Er hat&#8217;s f&#0252;r die Familie getan. Hat das Geld zur&#0252;ckholen wollen, das Geld der Frau...</p><p class="standard">Da sprach Sonja weiter:</p><p class="standard">&#0187;Er ist immer &#0246;fter zum Ellenberger gegangen, damals.</p><p class="standard">Er hat auch viel getrunken, der Vater. Nicht regelm&#0228;&#0223;ig. Aber so alle Wochen ein- oder zweimal ist er betrunken heimgekommen. Einmal hab&#8217; ich ihm Schnaps holen m&#0252;ssen. Einen halben Liter. Er ist fr&#0252;h in sein Zimmer hinauf. Die Mutter war an dem Abend beim Onkel Aeschbacher eingeladen. Sie ist erst sp&#0228;t heimgekommen. Am n&#0228;chsten Morgen war die Flasche leer. Ich hab&#8217; sie fortgeworfen, damit die Mutter sie nicht sieht.&#0171;</p><p class="standard">Wieder das Schweigen. Man sah es dem Untersuchungsrichter an, da&#0223; er ungeduldig wurde. Aber Studer beruhigte den nerv&#0246;sen Herrn mit einer beschwichtigenden Handbewegung.</p><p class="standard">&#0187;Heut&#8217; vor acht Tagen bin ich wie gewohnt um halb sieben heimgekommen. Der Vater war schon da. Er stand im Wohnzimmer, beim Klavier und h&#0246;rte mich nicht kommen. Ich hab&#8217; geschaut, was er macht. Er hat die Vase, die immer auf dem Klavier steht, in der Hand gehalten, hat sie gesch&#0252;ttelt, es hat geklirrt, dann hat er sie wieder an ihren Platz gestellt und das Herbstlaub geordnet. &#8250;Was machst du da, Vater?&#8249; hab&#8217; ich gefragt. Er ist ein wenig erschrocken. Ich hab&#8217; dann nicht weiter gefragt. Am n&#0228;chsten Morgen bin ich als erste aufgestanden. Es waren f&#0252;nfzehn Patronenh&#0252;lsen in der Vase. Ja!&#0171;</p><p class="standard">Sonja sah den Untersuchungsrichter an, sah Schlumpf an. Sie schien auf laute Rufe des Erstaunens zu warten. Aber die beiden blieben stumm. Einzig Studer, vor der Schreibmaschine, auf der er noch kein Wort getippt hatte, winkte ab:</p><p class="standard">&#0187;Das wissen wir. Wir haben auch die T&#0252;r gefunden, die deinem Vater als Schie&#0223;scheibe gedient hat ...&#0171;</p><p class="standard">Da wurde endlich der Untersuchungsrichter doch von Neugierde geplagt. Und Studer mu&#0223;te von der Entdeckung im dunklen Schuppen erz&#0228;hlen, von dem abgehobelten Rechteck auf der altersschwarzen T&#0252;r und von den Einschu&#0223;&#0246;ffnungen, die keine Pulverspuren an den R&#0228;ndern gezeigt hatten.</p><p class="standard">Der Untersuchungsrichter nickte.</p><p class="standard">&#0187;Und wie war es am Dienstagabend, was haben Sie da getrieben, Fr&#0228;ulein Witschi?&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Ich bin mit dem Erwin spazieren gegangen&#0171;, sagte Sonja und ihr Gesicht blieb bleich. &#0187;Wir waren zusammen im Wald, es war ein sch&#0246;ner Abend. Ich bin um elf Uhr heimgekommen. Der Vater war noch nicht zu Hause. Die Mutter ist am Tisch gehockt, in der K&#0252;che. Sie schien aufgeregt. Auch der Armin war nicht zu Hause. Ich hab&#8217; gefragt, wo die beiden seien. Die Mutter hat die Achseln gezuckt. &#8250;Drau&#0223;en&#8249;, hat sie gesagt. Um halb zw&#0246;lf ist der Armin heimgekommen. Die Mutter hat gefragt: &#8250;Hat er? ...&#8249; Der Armin hat genickt und begonnen seine Taschen zu leeren.&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Halt!&#0171; rief der Untersuchungsrichter. &#0187;Herr Studer, schreiben Sie bitte.&#0171; Und er diktierte nach den einleitenden Floskeln jedes Zeugenverh&#0246;rs Sonjas Erz&#0228;hlung.</p><p class="standard">&#0187;Weiter&#0171;, sagte er darauf. &#0187;Inhalt der Taschen?&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Eine Browningpistole, eine Brieftasche, ein F&#0252;llfederhalter, ein Portemonnaie, eine Uhr. Das alles legte der Armin auf den Tisch. Ich hab&#8217; gezittert vor Angst. &#8250;Was ist dem Vater passiert?&#8249; hab&#8217; ich immer wieder gefragt. Aber die beiden gaben keine Antwort. Armin &#0246;ffnete die Brieftasche und zog eine Hunderter- und eine F&#0252;nfzigernote heraus. Die Mutter nahm sie, ging zum Sekret&#0228;r, versorgte die F&#0252;nfzigernote und kam mit drei Hunderternoten zur&#0252;ck. Armin nahm das Geld, legte es auf den Tisch und sagte: &#8250;So, jetzt mu&#0223;t du zuh&#0246;ren und morgen genau das tun, was ich dir sage. Der Vater hat sich erschossen.&#8249; &#8250;Nein&#8249;, hab ich gerufen und hab&#8217; angefangen zu weinen. &#8250;Nein! Das ist nicht wahr&#8249; &#8210; &#8250;Pl&#0228;rr jetzt nicht und h&#0246;r&#8217; zu. Der Vater hat gefunden, es sei so das beste f&#0252;r ihn. Aber er hat mit uns ausgemacht, mit der Mutter und mir, da&#0223; es nicht als Selbstmord gelten darf. Denn wenn es ein Selbstmord ist, so zahlt die Versicherung nichts.&#8249; &#8210; Ich weinte. Dann sagte ich: &#8250;Aber das werden die Leute doch merken, da&#0223; er sich erschossen hat. Das geht doch in Romanen, aber nicht in der Wirklichkeit!&#8249; Hab&#8217; ich da nicht recht gehabt, Herr Wachtmeister?&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Hm, vielleicht, ja...&#0171;, murmelte Studer und besch&#0228;ftigte sich eifrig mit dem eingespannten Folioblatt. Die Linien waren schief.</p><p class="standard">&#0187;Das hab&#8217; ich dem Armin auch gesagt, und ob er es hat &#0252;bers Herz bringen k&#0246;nnen, da&#0223; sich der Vater f&#0252;r uns umbringt, hab&#8217; ich ihn gefragt ... Da sagte er, sie h&#0228;tten mit dem Vater ausgemacht, er solle sich nur anschie&#0223;en, sich eine schwere Verletzung beibringen, dann bek&#0228;me er auch die Versicherung f&#0252;r Ganzinvalidit&#0228;t &#8210; sich ins Bein schie&#0223;en zum Beispiel, sagte der Bruder, aber so, da&#0223; das Bein amputiert werden m&#0252;sse ... Das hat er gesagt, der Bruder...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Verr&#0252;ckt, idiotisch, hirnverbrannt!&#0171; fl&#0252;sterte der Untersuchungsrichter, streckte die Arme aus, da&#0223; die &#0196;rmel seines Rockes fast bis zu den Ellbogen rutschten, fuchtelte mit den H&#0228;nden in der Luft herum. &#0187;Das ist ja ... Was sagen Sie dazu, Studer? ...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Locard, Doktor Locard in Lyon, Sie wissen, wen ich meine, Herr Untersuchungsrichter, schreibt in einem seiner B&#0252;cher &#8210; (und mein Freund, der Kommiss&#0228;r Madelin, zitierte diesen Ausspruch mit Vorliebe) &#8210; es sei ein Irrtum, zu glauben, es gebe normale Menschen. Alle Menschen seien mindestens Halbverr&#0252;ckte und diese Tatsache d&#0252;rfe man in keiner Untersuchung vergessen ... Erinnern Sie sich vielleicht an den Fall jenes &#0246;sterreichischen Zahntechnikers, der sein Bein auf einen Spaltklotz legte und es mit einer Axt bearbeitete, bis es nur noch an einem Fetzen hing &#8210; nur um eine sehr hohe Unfallversicherung einzukassieren ...? Es gab damals einen gro&#0223;en Proze&#0223; ...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Ja, ja&#0171;, sagte der Untersuchungsrichter. &#0187;In &#0214;sterreich! Aber wir sind doch in der Schweiz!&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Die Menschen sind &#0252;berall gleich&#0171;, seufzte Studer. &#0187;Was soll ich schreiben?&#0171;</p><p class="standard">Stockend diktierte der Untersuchungsrichter, aber seine S&#0228;tze verfilzten sich derart, da&#0223; Studer M&#0252;he hatte, diese Syntax zu entwirren...</p><p class="standard">&#0187;Weiter, weiter! Fr&#0228;ulein Witschi!&#0171; Der Untersuchungsrichter wischte sich die Stirn mit einem kleinen farbigen Taschentuch, ein Duft von Lavendel schwebte durch den Raum...</p><p class="standard">Sonja war versch&#0252;chtert. Sie hatte nicht verstanden, was da verhandelt wurde. Verr&#0252;ckt? dachte sie, warum verr&#0252;ckt? Wenn wir doch das Geld so notwendig gebraucht haben! ... Und dann erz&#0228;hlte sie weiter:</p><p class="standard">&#0187;Da fragt die Mutter ganz kalt: &#8250;Wo sitzt der Schu&#0223;?&#8249; &#8210; Und der Armin antwortet genau so kalt: &#8250;Hinter dem rechten Ohr.&#8249; Da nickt die Mutter, wie anerkennend: &#8250;Das hat er gut gemacht, der Vater.&#8249; Aber dann war&#8217;s vorbei mit ihrer Ruhe. Ich hab&#8217; die Mutter nie weinen sehen, auch damals nicht, als wir das ganze Geld verloren hatten. Sie hat immer nur geschimpft. Aber jetzt legte sie den Kopf auf den Tisch und ihre Schultern zuckten. &#8250;Aber Mutter!&#8249; sagt der Armin. &#8250;Es ist doch besser so!&#8249; &#8210; Da wird die Mutter b&#0246;s, springt auf, l&#0228;uft im Zimmer hin und her und sagt nur immer: &#8250;Zweiundzwanzig Jahre! Zweiundzwanzig Jahre! &#8249; &#0171;</p><p class="standard">Man f&#0252;hlte es, Sonja erlebte die ganze Szene noch einmal, sie sah alles vor sich. Ihre Lider waren gesenkt. &#8210; Lange Wimpern hatte das M&#0228;dchen...</p><p class="standard">Studer tr&#0228;umte vor sich hin ... Also war das Bild, das er sich gemacht hatte, damals, als er die Mutter Witschi besucht hatte, doch falsch gewesen ... Er hatte den Tisch gesehen, die Leute darum: Anastasia Witschi redet auf ihren Mann ein, er solle kein Feigling sein ... Gewi&#0223;, das war sicher alles so gewesen. Er hatte nur einen Menschen zuviel am Tisch gesehen: Sonja.</p><p class="standard">Sonja wu&#0223;te von nichts, man hatte ihr nichts erz&#0228;hlt, bis man sie vor eine vollendete Tatsache hatte stellen k&#0246;nnen ... Und auch dann h&#0228;tte sie sich vielleicht geweigert, wenn ... wenn nicht die Romane gewesen w&#0228;ren:</p><p class="standard">&#0187;Unschuldig schuldig&#0171; hie&#0223; einer &#8210; Leute wie der Untersuchungsrichter hatten kein Verst&#0228;ndnis f&#0252;r derartige Kompliziertheiten.</p><p class="standard">Kompliziertheiten? ...</p><p class="standard">Einfach war es! &#0220;berw&#0228;ltigend einfach!</p><p class="standard">Aber es schien, da&#0223; ein einfacher Fahnder solche Kompliziertheiten besser verstand als ein Studierter... Sonja war zur Gegenpartei &#0252;bergegangen ... Merkw&#0252;rdig, es hatte damit begonnen, da&#0223; der Wachtmeister dem M&#0228;dchen die Tr&#0228;nen getrocknet hatte ... Solche Dinge waren zart wie die F&#0228;den, die im Altweibersommer durch die Luft fliegen; nachdenken durfte man &#0252;ber sie, aber von ihnen sprechen? Sicher, wenn man solches aussprach, bekam man das Zitat von Locard an den Kopf geschmissen ... Mit Recht! Mit Recht! ...</p><p class="standard">Merkw&#0252;rdig, wie Stimmen sich ver&#0228;ndern konnten! Sonjas Stimme war tief und ein wenig heiser, als sie weiter erz&#0228;hlte:</p><p class="standard">&#0187;Da sagt der Bruder: &#8250;Du stehst ja gut mit dem Schlumpf. Ihr wollt euch ja sogar heiraten. Jetzt kann er zeigen, ob er dich wirklich gern hat. Du sagst ihm morgen, da&#0223; er sich verd&#0228;chtig machen mu&#0223;. Es mu&#0223; so aussehen, als ob er den Mord begangen h&#0228;tte ... Bis wir die Versicherungen ausbezahlt bekommen haben ... Dann werden wir schon sehen, da&#0223; wir ihn frei bekommen.&#8249; Ich hab&#8217; mich zuerst geweigert, aber nicht lange. Ich war ja so dumm. Ich hab&#8217; zuviel Romane gelesen. Und in den Romanen, da kommt ja immer vor, da&#0223; einer sich f&#0252;r eine Frau opfert, freiwillig ins Gef&#0228;ngnis geht, um sie nicht zu verraten. Wir haben dann noch alles besprochen. Ich sollte den Schlumpf am n&#0228;chsten Abend aufsuchen, ihm die dreihundert Franken geben, dann sollte er in den &#8250;B&#0228;ren&#8249; und dort etwas trinken und eine Hunderternote wechseln. Der Bruder hat dann dem Murmann angel&#0228;utet ...&#0171;</p><p class="standard">Das Telephon, von dem Murmann gesprochen hatte! Die unbekannte m&#0228;nnliche Stimme! Es war wirklich alles konstruiert wie in einem Roman ... Man m&#0252;&#0223;te noch mit dem Armin reden ... Und welche Rolle spielte der Coiffeurgehilfe in der ganzen Angelegenheit? Gerber hatte ein Motorrad; ob er wohl auch ein Auto lenken konnte? Sicher! Man m&#0252;&#0223;te wissen, was Cottereau, der Oberg&#0228;rtner, beim alten Ellenberger, gesehen hatte, um von ein paar Burschen so &#0252;bel behandelt zu werden ... Studer geriet mehr und mehr ins Tr&#0228;umen. &#8210; Der alte Ellenberger hatte eine Waffe gekauft ... Vielleicht doch zwei Sch&#0252;sse? Hatte jemand beim Selbstmord nachgeholfen? ... Vielleicht Witschis Arm gehalten? ... Oder hatte Witschi daneben geschossen, und ein anderer...</p><p class="standard">&#0187;Warum hast du dem Coiffeurgehilfen eigentlich den F&#0252;llfederhalter geschenkt?&#0171; fragte Studer in die Stille. Und dabei sah er den Gerber vor sich mit seinen allzu roten Lippen und mit seinem Mantel, der blaue Aufschl&#0228;ge trug.</p><p class="standard">&#0187;Er hat uns damals in der Nacht zusammen gesehen, den Schlumpf und mich&#0171;, sagte Sonja leise. &#0187;Und er hat gedroht, er erz&#0228;hle es dem Statthalter, da&#0223; der Schlumpf unschuldig ist ...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Wann hat er Euch gesehen?&#0171; Ganz scharf stellte Studer die Frage.</p><p class="standard">&#0187;Am Ungl&#0252;cksabend, am Dienstag, um zehn Uhr, auf der andern Seite des Dorfes, gar nicht in der N&#0228;he des Ortes, wo man den Vater gefunden hat ...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;So&#0171;, sagte Studer. Dann vertiefte er sich wieder ins Schreiben. Der Untersuchungsrichter diktierte langsam. Studer kam gut nach...</p><p class="standard">Aber es war dennoch ein m&#0252;hseliges Tun. Der Untersuchungsrichter begann Fragen zu stellen, kreuz und quer, er wollte alles wissen, er bohrte und bohrte, es ging eine halbe Stunde, es ging eine ganze Stunde. Selbst Studer standen die Schwei&#0223;perlen auf der Stirn, und Sonja war nahe am Zusammenklappen. Nur der Bursche Schlumpf hielt sich aufrecht. Er stand an der Wand, er antwortete kurz und klar, wenn eine Frage an ihn gestellt wurde. Dabei schien er gar nicht &#0252;berm&#0228;&#0223;ig erfreut zu sein, da&#0223; er nun bald wieder die Freiheit w&#0252;rde genie&#0223;en k&#0246;nnen. Studer verstand ihn so gut. Die Heldenrolle war ausgespielt &#8210; und der Bursche Schlumpf hatte sich gar nicht wie ein Romanheld benommen! Er hatte seine Unschuld beteuert, er hatte versucht, sich umzubringen ... Nein, er war durchaus keine leuchtende Gestalt... Gott sei Dank, dachte Studer; er hatte nichts &#0252;brig f&#0252;r Helden. Er fand bei sich, da&#0223; es eigentlich gerade die Schw&#0228;chen waren, die die Menschen liebenswert machten...</p><p class="standard">Endlich, endlich war der Untersuchungsrichter fertig. Es war bei der ganzen Fragerei nichts Wichtiges mehr herausgekommen. H&#0228;tte man Sonjas Erz&#0228;hlung auf einer Platte aufgenommen, dachte Studer, so w&#0228;re der Eindruck lebendiger gewesen, richtiger als das trockene Protokoll in der indirekten Rede ... Sei&#8217;s drum.</p><p class="standard">&#0187;Ich werde nat&#0252;rlich&#0171;, sagte der Untersuchungsrichter, nachdem er Sonja (&#0187;Du wartest auf mich, Meitschi&#0171;, hatte Studer ihr gesagt, &#0187;ich f&#0252;hr&#8217; dich heim...&#0171;) und Schlumpf gn&#0228;digst entlassen hatte, &#0187;ich werde nat&#0252;rlich mit dem Herrn Staatsanwalt die Sache besprechen, und dann wird einer Haftentlassung des Schlumpf nichts im Wege stehen...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;H&#0252;ten Sie sich, das zu tun, Herr Untersuchungsrichter&#0171;, Studer drohte mit dem Finger und ein merkw&#0252;rdiger Ausdruck sa&#0223; in seinen Augen. &#0187;Lassen Sie den Herrn Staatsanwalt vorl&#0228;ufig ganz aus dem Spiel. Sie brauchen doch Best&#0228;tigungen, Sie m&#0252;ssen doch zuerst den Bruder, die Mutter verh&#0246;ren. Sie m&#0252;ssen den Baumschulenbesitzer vorladen. Sie m&#0252;ssen Best&#0228;tigungen haben ...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Aber Studer, um Gottes willen, es ist doch ganz klar, da&#0223; es sich um einen Selbstmord handelt ...!&#0171;</p><p class="standard">Studer schwieg. Dann sagte er:</p><p class="standard">&#0187;Ich m&#0246;chte gern den Autodieb sprechen ...&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Ist das n&#0246;tig?&#0171;</p><p class="standard">&#0187;Ja&#0171;, sagte Studer.</p><p class="standard">Der Untersuchungsrichter zuckte die Achseln, als wolle er andeuten, da&#0223; man sich allerhand gefallen lassen m&#0252;sse. Aber er wollte doch einen kleinen Triumph haben, darum sagte er spitz:</p><p class="standard">&#0187;Sie haben vorhin Doktor Locard zitiert, nicht wahr? Aber... Sie ...&#0171; Vor Studers Blick wu&#0223;te der Untersuchungsrichter pl&#0246;tzlich nicht weiter. Aber der Wachtmeister sprach den Gedanken seines Gegen&#0252;bers r&#0252;cksichtslos aus:</p><p class="standard">&#0187;Sie meinen, ob ich selbst nicht auch ein Halbverr&#0252;ckter bin? Aber mein lieber Herr&#0171;, dem Untersuchungsrichter gab es ob dieser Anrede einen kleinen Ruck &#8210; diese Familiarit&#0228;t! &#8210; &#0187;wir haben alle einen Vogel im Kopf. Manche haben sogar eine ganze H&#0252;hnerfarm ...&#0171;</p><p class="standard">Der Untersuchungsrichter beeilte sich, auf die Klingel zu dr&#0252;cken...</p></div></div></div></body>
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