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    <title>pt05.html</title></head><body><div class="part WordXML" id="pt05"><div class="chapter"><h1 class="ueberschrift1" id="id0000008">Felicitas Rose und Parker Duofold</h1><div class="section"><p class="TkOhne">Das M&#0228;dchen las einen Roman von Felicitas Rose. Einmal hielt sie das Buch hoch, so da&#0223; Studer den Umschlag sehen konnte: ein Herr in Reithosen und blanken Stiefeln lehnte an einer Balustrade, im Hintergrunde schwammen Schw&#0228;ne auf einem Schlo&#0223;teich und ein Fr&#0228;ulein in Wei&#0223; spielte versch&#0228;mt mit ihrem Sonnenschirm.</p><p class="standard">&#0187;Warum lesen Sie eigentlich solchen Mist?&#0171; fragte Studer. &#8210; Es gibt gewisse Leute, die &#0252;berempfindlich auf Jod und Brom sind, Idiosynkrasie nennt man dies ... Studers Idiosynkrasie bezog sich auf Felicitas Rose und Courths-Mahler. Vielleicht, weil seine Frau fr&#0252;her solche Geschichten gerne gelesen hatte &#8210; n&#0228;chtelang &#8210; dann war am Morgen der Kaffee d&#0252;nn und lau gewesen und die Frau schmachtend. Und schmachtende Frauen am Morgen ...</p><p class="standard">Das M&#0228;dchen sah bei der Frage auf, wurde rot und sagte b&#0246;se: &#0187;Das geht Euch nichts an!&#0171; versuchte weiter zu lesen, aber dann schien es ihr doch zu verleiden, sie klappte das Buch zu und steckte es in eine Aktenmappe, in der, wie Studer feststellte, noch zwei schmutzige Taschent&#0252;cher, ein F&#0252;llfederhalter von imposanter Dicke und eine Handtasche verstaut waren. Dann blickte das M&#0228;dchen zum Fenster hinaus.</p><p class="standard">Studer l&#0228;chelte freundlich und betrachtete es aufmerksam. Er hatte Zeit ...</p><p class="standard">Der Zug kroch durch eine graue Landschaft. Regentropfen zogen punktierte Linien aufs Glas, dann flossen sie, unten am Fenster, zu kleinen tr&#0252;ben Seelein zusammen. Und andere Regentropfen punktierten aufs neue die Scheibe... H&#0252;gel stiegen auf, ein Wald verbarg sich im Nebel...</p><p class="standard">Das Kinn des M&#0228;dchens war spitz. Laubflecken auf dem Nasensattel und an den sehr wei&#0223;en Schl&#0228;fen ... Die hohen Abs&#0228;tze an den Schuhen waren an der Innenseite schief getreten. Sobald sich der Schuh verschob, lie&#0223; er ein Loch im dunklen Strumpf sehen, hinten, &#0252;ber der Ferse.</p><p class="standard">Das M&#0228;dchen hatte ein Abonnement gezeigt. Es mu&#0223;te die Strecke oft fahren. Wohin fuhr sie? Etwa auch nach Gerzenstein? Sie trug ein kleines Kn&#0246;tchen im Nacken, eine Baskenm&#0252;tze &#0252;ber das rechte Ohr gezogen. Das blaue B&#0233;ret war staubig.</p><p class="standard">Studer l&#0228;chelte v&#0228;terlich milde, als ihn ein Blick des M&#0228;dchens streifte. Aber das V&#0228;terlich-Milde zog nicht. Das M&#0228;dchen starrte zum Fenster hinaus.</p><p class="standard">Unruhig zuckten die H&#0228;nde. Die kurzgeschnittenen N&#0228;gel hatten einen Trauerrand. Auf der Innenseite des rechten Zeigefingers war ein Tintenfleck.</p><p class="standard">Noch einmal &#0246;ffnete das M&#0228;dchen die Mappe, kramte darin, fand schlie&#0223;lich das Gesuchte.</p><p class="standard">Es war ein dicker, echter Parker Duofold, ein ausgesprochen m&#0228;nnlicher F&#0252;llfederhalter von brauner Farbe.</p><p class="standard">Das M&#0228;dchen schraubte die H&#0252;lse ab, probierte die Feder auf dem Daumennagel, holte sich noch einmal Felicitas Rose aus der Mappe, aber nicht, um darin zu lesen: die letzte Seite sollte als &#0220;bungsfeld dienen. Sie kritzelte. Studer starrte auf die Buchstaben, die entstanden:</p><p class="standard">&#0187;Sonja...&#0171; stand da. Und dann formte die Feder andere Buchstaben:</p><p class="standard">&#0187;Deine Dich ewig liebende Sonja ...&#0171;</p><p class="standard">Studer wandte den Blick ab. Wenn das M&#0228;dchen jetzt aufsah, dann wurde es sicher verlegen oder b&#0246;se. Man soll Leute nicht nutzlos b&#0246;se oder verlegen machen. Man mu&#0223; es ohnehin nur allzu oft tun, wenn man den Beruf eines Fahnders aus&#0252;bt...</p><p class="standard">Der Zugf&#0252;hrer ging durch den Wagen. An der T&#0252;r, die zum n&#0228;chsten Abteil f&#0252;hrte, wandte sich der Mann um: &#0187;Gerzenstein&#0171;, sagte er laut.</p><p class="standard">Das M&#0228;dchen behielt den F&#0252;llfederhalter in der Hand, lie&#0223; Felicitas Rose mit dem sch&#0246;nen Grafen in gewichsten Reitstiefeln in der Mappe verschwinden und stand auf.</p><p class="standard">Ein Transformatorenh&#0228;uschen. Viele Einfamilienh&#0228;user. Dann ein gr&#0246;&#0223;eres Haus. Ein Schild darauf: &#0187;Gerzensteiner Anzeiger. Druckerei Emil Aeschbacher&#0171;. Daneben, im Garten, ein K&#0228;fig aus Drahtgeflecht. Kleine bunte Sittiche hockten verfroren auf Stangen. Die Bremsen schrieen. Studer stand auf, packte seinen Koffer am Griff und schritt zur T&#0252;r. Seine Gestalt im blauen Regenmantel f&#0252;llte den Gang aus.</p><p class="standard">Es tr&#0246;pfelte noch immer. Der Stationsvorstand hatte einen dicken Mantel angezogen, seine rote M&#0252;tze war das einzig Farbige in all dem Grau. Studer trat auf ihn zu und fragte ihn, wo hier der Gasthof zum &#0187;B&#0228;ren&#0171; sei.</p><p class="standard">&#0187;Die Bahnhofstra&#0223;e hinauf, dann links, das erste gro&#0223;e Haus mit einem Wirtsgarten daneben ...&#0171; Der Stationsvorstand lie&#0223; Studer stehen.</p><p class="standard">Wo war das M&#0228;dchen geblieben? Das M&#0228;dchen, das auf die letzte Seite eines broschierten Romans mit kleiner, etwas zittriger Schrift geschrieben hatte: &#0187;Deine Dich ewig liebende Sonja...&#0171; Sonja? Es hie&#0223;en nicht viele M&#0228;dchen Sonja...</p><p class="standard">Dort stand das M&#0228;dchen, vor dem Kiosk, dessen Fenster mit farbigen Einb&#0228;nden tapeziert war. Es beugte sich zum kleinen Schiebfenster und Studer h&#0246;rte es sagen:</p><p class="standard">&#0187;Ich geh jetzt heim, Mutter. Wann kommst du?&#0171; Ein Gemurmel war die Antwort.</p><p class="standard">Also doch die Sonja Witschi... Und die Mutter mu&#0223;te man sich auch gleich ansehen. Die Mutter, die durch die Vermittlung des Herrn Gemeindepr&#0228;sidenten Aeschbacher den Bahnhofkiosk erhalten hatte.</p><p class="standard">Frau Witschi hatte die gleiche spitze Nase, das gleiche spitze Kinn wie ihre Tochter.</p><p class="standard">Studer kaufte zwei Brissagos, dann schlenderte er &#0252;ber den Bahnhofplatz. Eine Bogenlampe. Um ihren Sockel ein Beet mit roten, steifen Tulpen. Aus einem der oberen Fenster des Bahnhofes schmetterte ein Lautsprecher den Deutschmeistermarsch. Etwa f&#0252;nfzig Schritte vor dem Wachtmeister ging das M&#0228;dchen Sonja.</p><p class="standard">Vor einem Coiffeurladen stand ein bleicher J&#0252;ngling, der einen wei&#0223;en Mantel mit blauen Aufschl&#0228;gen trug. Sonja trat auf den J&#0252;ngling zu, Studer blieb vor einem Laden stehen. Er schielte zu dem Paar hin&#0252;ber, das sich fl&#0252;sternd unterhielt, dann reichte das M&#0228;dchen dem J&#0252;ngling einen Gegenstand und trippelte davon. Aus der T&#0252;r des Coiffeurladens quoll eine kn&#0246;dlige Stimme: &#0187;Sie h&#0246;ren jetzt das Zeitzeichen des chronometrischen Observatoriums in Neuch&#0226;tel ...&#0171; Und ged&#0228;mpft, durch die geschlossene T&#0252;re drang aus dem Laden, vor dem Studer stand, der &#0187;Sambre et Meuse&#0171;-Marsch ..</p><p class="standard">&#0187;Das Dorf Gerzenstein liebt Musik...&#0171;, stellte der Wachtmeister bei sich fest und betrat den Coiffeurladen.</p><p class="standard">Er stellte den Koffer ab, hing seinen blauen Regenmantel an den St&#0228;nder und nahm aufseufzend in einem Fauteuil Platz.</p><p class="standard">&#0187;Rasieren&#0171;, sagte er.</p><p class="standard">Als der J&#0252;ngling sich &#0252;ber Studer beugte, sah der Wachtmeister zwischen den blauen Aufschl&#0228;gen des Friseurmantels, im oberen Westent&#0228;schchen, den dicken F&#0252;llfederhalter, den das M&#0228;dchen Sonja im Zuge aus der Mappe genommen hatte.</p><p class="standard">Studer fragte aufs Geratewohl:</p><p class="standard">&#0187;G&#0228;big, he? Wenn man eine Freundin hat, die einem einen teuren F&#0252;llfederhalter schenkt?&#0171;</p><p class="standard">Einen Augenblick blieb der schaumige Pinsel &#0252;ber seiner Wange h&#0228;ngen. Studer betrachtete die Hand, die den Pinsel hielt. Sie zitterte. Also stimmte etwas nicht. Aber was? Studer sah im Spiegel das Gesicht des J&#0252;nglings. Es war k&#0228;sig. Die allzu roten Lippen waren gesch&#0252;rzt und lie&#0223;en die oberen Z&#0228;hne sehen, die br&#0228;unlich und schadhaft waren. Hatte sich Sonja in diesen Ladenschwengel verliebt? Da war doch der Schlumpf ein anderer Bursch, trotz seiner Vergangenheit, trotz seiner Verzweiflung gestern ... Gestern? War das erst gestern gewesen? &#8210; Da hing einer am Fensterkreuz, da schrie einer in der Zelle, in der noch die K&#0228;lte des Winters hockte &#8210; und drau&#0223;en vor den Fenstern sang eine Kleinm&#0228;dchenstimme:</p><p class="standard">&#0187;Allewil, allewil blib i dir treu ...&#0171; &#8210; &#8210; &#8210;</p><p class="standard">Sanft strich der Pinsel wieder &#0252;ber Studers Wangen.</p><p class="standard">&#8210; Ob er ihn denn so erschreckt habe, fragte Studer den k&#0228;sigen J&#0252;ngling. Der sch&#0252;ttelte den Kopf. Studer beruhigte ihn weiter. &#8210; Da sei doch weiter nichts dabei, wenn man von einer Freundin ein Geschenk erhalte. Obwohl es ihn immerhin merkw&#0252;rdig d&#0252;nke, da&#0223; ein M&#0228;dchen, das L&#0246;cher in den Str&#0252;mpfen habe, so teure F&#0252;llfederhalter verschenken k&#0246;nne...</p><p class="standard">&#8210; Der F&#0252;llfederhalter sei eine Erbschaft vom Vater... Ja eine Erbschaft.</p><p class="standard">Die Stimme des J&#0252;nglings war heiser, so, als ob Mund, Zunge, Rachen ausged&#0246;rrt seien.</p><p class="standard">In der Ecke schnatterte der Lautsprecher &#8210; und pl&#0246;tzlich gab es Studer einen Ruck. Was der Mann irgendwo, ganz fern, am Mikrophon erz&#0228;hlte, ging auch ihn an. Der J&#0252;ngling, der abwesend mit dem Pinsel in dem Becken ger&#0252;hrt hatte, stellte seine T&#0228;tigkeit ein und verharrte reglos.</p><p class="standard">Besonders eindringlich sagte die ferne Stimme:</p><p class="standard">&#0187;Bevor wir unser Mittagskonzert fortsetzen, habe ich Ihnen noch eine kurze Mitteilung der kantonalen Polizeidirektion Bern zu machen: Seit gestern abend wird Herr Jean Cottereau, Oberg&#0228;rtner in den Baumschulen Ellenberger, Gerzenstein, vermi&#0223;t. Es scheint sich um eine brutale Entf&#0252;hrung zu handeln, deren Hintergr&#0252;nde bis jetzt noch nicht aufgehellt sind. Der Vermi&#0223;te kehrte gestern abend in Begleitung seines Meisters, Herrn Ellenberger, mit dem Zehn-Uhr-Zug von Bern heim. Gerade als beide in den Feldweg einbiegen wollten, der au&#0223;erhalb des Dorfes Gerzenstein liegt, wurden sie von einem Auto mit gel&#0246;schten Lichtern von hinten angefahren. Herr Gottlieb Ellenberger fiel mit dem Kopfe gegen einen Randstein und erlitt eine leichte Gehirnersch&#0252;tterung. Als er aus einer kurzen Ohnmacht erwachte, sah er, da&#0223; sein Begleiter, Herr Jean Cottereau, verschwunden war. Von dem Auto war keine Spur zu entdecken. Trotz heftiger Kopfschmerzen begab sich Herr Ellenberger auf den Posten der Kantonspolizei. Die mit Hilfe des Landj&#0228;gerkorporals Murmann und einiger Einwohner durchgef&#0252;hrte Streife in die Umgebung des Dorfes verlief resultatlos. Bis jetzt ist von dem Vermi&#0223;ten keine Spur zu entdecken gewesen. Das Signalement des Vermi&#0223;ten gibt die Kantonspolizei wie folgt an:</p><p class="standard">Gr&#0246;&#0223;e 1 Meter 6o, korpulent, rotes Gesicht, sp&#0228;rliche Haare, schwarzer Anzug ... Sachdienliche Mitteilungen sind zu richten ...&#0171;</p><p class="standard">Der J&#0252;ngling machte einige schleichende Schritte. Ein Knax. Die Stimme verstummte. Dann kam der J&#0252;ngling zur&#0252;ck. Das Klappen des Messers auf dem Abziehholz war deutlich zu h&#0246;ren.</p><p class="standard">&#0187;Geht&#8217;s Messer?&#0171; fragte er, als er eine Wange rasiert hatte.</p><p class="standard">Studer brummte.</p><p class="standard">Dann wieder Schweigen.</p><p class="standard">Der J&#0252;ngling war fertig, Studer wusch sich &#0252;ber dem Becken.</p><p class="standard">&#0187;Stein?&#0171; fragte der J&#0252;ngling und dr&#0252;ckte rhythmisch auf die Gummiblase eines Zerst&#0228;ubers.</p><p class="standard">&#0187;Nein&#0171;, sagte Studer. &#0187;Puder.&#0171;</p><p class="standard">Sonst wurde nichts gesprochen.</p><p class="standard">Beim Fortgehen bemerkte Studer auf einem Tischchen im Hintergrunde einen Stapel broschierter B&#0228;ndchen. Er sah sich den Titel des obersten an.</p><p class="standard">&#0187;John Klings Erinnerungen&#0171;, stand darauf. Darunter: &#0187;Das Geheimnis der roten Fledermaus.&#0171;</p><p class="standard">Studer grinste unter seinem Schnurrbart, als er den Laden verlie&#0223;.</p></div></div></div></body>
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