Der Daumenabdruck

Die Nacht war kühl. Studer fröstelte während der kurzen Strecke vom Posten zum »Bären«. Er beschloß, noch einen Grog zu trinken, der Schnupfen meldete sich wieder mit Druck im Kopf und einem unangenehmen Jucken im Hals. Aber der Wachtmeister wollte nicht in der Gaststube sitzen. Er fragte den Wirt, der in der Haustüre stand, ob nicht ein Nebenzimmer da sei. Der Wirt nickte.

Der Raum lag neben der Gaststube, die Verbindungstüre stand offen. Drüben war es ziemlich laut, ein Summen von vielen Stimmen, darüber wogten Melodiefetzen, die der Lautsprecher spuckte (Gut, ist er eingeschaltet, dachte Studer); dann sagte eine Stimme: »Fünfzig vom Trumpfaß mit Stöck und Dreiblatt vom Nell...« Bewundernde Ausrufe wurden laut. Dann sagte die gleiche Stimme: »Und Matsch ...«

Der Tonfall dieser Stimme erinnerte Studer an irgend etwas. Er kam aber erst darauf, als der Ansager sich im Radio meldete: »Sie hören nun zum Schluß unseres Unterhaltungskonzertes ...« Ja, der Ansager sprach hochdeutsch, aber sein Tonfall, seine Art zu sprechen, glich der Stimme, die den unerhörten »Wiis« proklamiert hatte...

Die Wirtin brachte den Grog, sie setzte sich zu Studer, fragte, wie es gehe, ob die Untersuchung Fortschritte mache, nach ihrer Meinung sei natürlich der Schlumpf der Verbrecher... Aber da seien eben noch andere daran schuld, daß solche Verbrechen in einem stillen Dorf, wie Gerzenstein passieren könnten...

Es war gespenstisch. Die Wirtin redete und Studer hatte den Eindruck, das Gritli Wenger jodeln zu hören. Und als der Wirt auch noch dazu kam (viel jünger schien er als seine Frau, er hatte O-Beine und war, wie sich später herausstellte, Dragonerwachtmeister), ja, als der Wirt zu sprechen begann, hatte er wahr- und wahrhaftig die Stimme des Konditorkomikers Hegetschweiler.

Wo hatten die Leute ihre Stimmen gelassen? Waren sie vom Radio vergiftet worden? Hatten die Gerzensteiner Lautsprecher eine neue Epidemie verursacht? Stimmenwechsel?

Da, da war es wieder ...

Draußen beklagte sich einer, er habe nichts mehr zu trinken, und er sprach diese einfachen Worte in so singendem Tonfall, daß Studer meinte, den Schlager zu hören: »Ich hab’ kein Auto, ich hab’ kein Rittergut ...«

Der Wachtmeister trat vorsichtig an die Verbindungstür, er hielt sich ein wenig hinter dem Pfosten versteckt und übersah den Raum.

Am Tisch, an dem er zu Mittag gegessen hatte, saßen vier Männer. Am auffälligsten war einer, der sich in die Ecke gedrückt hatte. Es war ein schwerer, dicker Mann. Ein grauer Katerschnurrbart starrte stachelig über seiner Oberlippe, das Gesicht war rot und lief nach oben spitz zu, das Kinn war in Fettfalten eingebettet. Der Kopf glühte, in die Stirne fiel eine einsame, braune Locke.

Wer er Mann dort sei, fragte Studer leise die Wirtin.

Der mit dem spitzen Gring? Das sei der Aeschbacher, der Gemeindepräsident. Studer lächelte, er mußte an den alten Ellenberger denken und an seine kurze, aber treffende Charakterisierung: eine Sau, die den Rotlauf hat ... Es stimmte aber doch nicht ganz, dachte Studer bei sich. Der Aeschbacher hatte merkwürdige Augen, sehr, sehr merkwürdige Augen. Verschlagen, gescheit ... Nein, ein zweitägiges Kalb war der nicht!

Der Gemeindepräsident hatte als Spielpartner einen Mann, der statt eines Kopfes einen hellgelben, riesigen Badeschwamm zu tragen schien. Studer sah den Mann nur von hinten, jetzt hörte er aber auch dessen Stimme:

»Ich muß leider, leider schieben ...«

Es war die Stimme, die sich vorher beklagt hatte, es sei nichts mehr zum Trinken da, die Stimme, die wie die eines Coupletsängers klang.

»Und wer spielt mit dem Gemeindepräsidenten?« fragte Studer.

»Das ist der Lehrer Schwomm.«

»Der hat seinen Namen verdient«, dachte Studer. Das blonde Haar war gekräuselt. Der Mann trug einen hohen steifen Kragen, sein dunkler Rock war sicher nach Maß gearbeitet ... Studer sah noch die Hände. Die Härchen darauf schimmerten im Lampenlicht.

An einem anderen Tisch saßen vier junge Burschen ‒ Armin Witschi war dabei und der Coiffeurgehilfe Gerber, die beiden andern waren erst halberwachsen, sie hatten noch Flaum auf den Wangen und ihre Hosen waren zu kurz. Jetzt, da sie saßen, endeten sie in der Mitte der Waden ‒, auch sie spielten. Eben hatte der Lautsprecher verkündet:

»Sie haben soeben als Schluß unseres Abendkonzertes gehört ...« Niemand blickte auf. Die Stimme fuhr fort: »Bevor wir Ihnen nun die Wettervoraussage mitteilen, haben wir Ihnen noch eine Bekanntmachung der kantonalen Polizeidirektion zu übermitteln: Es handelt sich um den heute mittag als vermißt gemeldeten Jean Cottereau, Obergärtner in den Baumschulen Ellenberger ...« Studer kannte die Mitteilung, in Bern hatten sie sich beeilt, sie durchzugeben. Nun war er neugierig, wie sie wirken würde.

»Der Mann ist zurückgekehrt. Er hat weder über seine Angreifer noch über die Ursache seiner Entführung genauere Mitteilungen machen können, jedoch ist Wachtmeister Studer, der mit den Ermittlungen über den schon gemeldeten Mordfall in Gerzenstein betraut ist, der Meinung, daß besagter Mordfall in engem Zusammenhang mit der Entführung des Obergärtners Cottereau und der Verletzung des Herrn Ellenberger steht. Personen, die Näheres über diesen Fall wissen, werden gebeten, sich auf dem Landjägerposten Gerzenstein zu melden oder der kantonalen Polizeidirektion telephonische Mitteilung über ihre Wahrnehmungen zu machen.«

Pause.

Studer war unter die Tür getreten und beobachtete die Wirkung der Worte.

Die vier jungen Burschen schienen erstarrt. Auf dem Jaßdeckli lag der letzte Stich, fast in der Mitte, vier Karten übereinander, aber keine Hand regte sich, um den Stich zu kehren. Die Kartenfächer hielten sie gegen die Brust gepreßt.

Am Tisch des Gemeindepräsidenten schien niemand weiter erschüttert. Das Spiel war eben frisch gegeben worden. Aeschbacher hielt sein Kartenpäckli in der Hand, die andere Hand stützte den riesigen roten Kopf. Der Mund war leicht verzogen, der Schnurrbart sträubte sich. Der Lautsprecher fuhr fort:

»Wahrscheinlich wird die zuständige Staatsanwaltschaft eine Be ...«

Aeschbacher winkte und sagte mit der Stimme, die große Ähnlichkeit mit der des Ansagers hatte:

»Ich habe genug von dem Geschnörr, abstellen!«

Nur auf diesen Befehl schien die Saaltochter gewartet zu haben. Ein Knacken. Stille.

Die Holztische schimmerten hell, frisch gescheuert, die Spieldecken zeichneten schwarze Rechtecke darauf. Auf den Literkaraffen spiegelte sich der gelbe Schein der zwei Deckenlampen. Deutlich hörte Studer das Anstreichen eines Zündholzes an der gerillten Fläche des porzellanenen Aschenbechers. Gemeindepräsident Aeschbacher zündete seinen erloschenen Stumpen an, dann sagte er laut in die Stille:

»Bringet den Burschen dort einen Liter Roten auf meine Rechnung...«

Murmeln am Tisch Armin Witschis:

»Merci, Herr Gemeindepräsident, dank au ...«

Dann begann sich die Gruppe wieder zu bewegen. Auch das war ein wenig gespenstisch. Es sah aus, als werde bei Automaten ein Schalter gedreht. Sie begannen plötzlich die gewohnten Bewegungen, die Kartenfächer hoben sich vor die Augen, die Karten fielen auf den Tisch.

Aufgereckt an seinem Platz saß Aeschbacher. Immer noch hielt er das Kartenpäckli in der Hand. Sein Blick war starr auf die Gruppe der spielenden Burschen gerichtet, so, als ob er sie zwingen wolle, in seine Richtung zu blicken. Aber die Burschen waren ins Spiel vertieft. Die Saaltochter trat zu ihnen, sie drückte sich zärtlich an Armin Witschi, während sie langsam den Liter Rotwein auf den Tisch stellte. Das schien Armin zu stören, er wandte sich brüsk um ‒ und da bemerkte er Aeschbachers Starren. Der Gemeindepräsident winkte mit dem Kartenpäckli. Armin stand gehorsam auf, trat an den Tisch der Herren. Der Gemeindepräsident flüsterte Armin eifrige Worte zu. Und da bemerkte Studer plötzlich, daß ihn Aeschbachers Augen nicht losließen. Der Wachtmeister stand allein in der Tür, die Wirtin war fortgegangen, er sah deutlich den Wink, mit dem Aeschbacher den Armin Witschi auf ihn aufmerksam machte. Nun schielte auch Armin zum Wachtmeister. Studer fühlte sich unbehaglich, am liebsten hätte er jetzt seinen Grog getrunken, der wurde sicher kalt ... Aber er wollte noch das Ende der Pantomime betrachten.

Aber es geschah nichts mehr.

»Aeschbacher, du machst Trumpf«, sagte der Mann, der einen Schwamm statt eines Kopfes zu tragen schien, der Mann, dem ein Couplet im Halse sang, der Lehrer

Schwomm .. .

»Ja, ja«, sagte der Präsident ärgerlich. Aeschbacher winkte Armin, er könne nun gehen. Mit einem einzigen Griff breitete er das Kartenpäckli fächerförmig auseinander: »Geschoben!« schnauzte er. Und zur Saaltochter:

»Berti, mach’ Tür zu, es zieht ...«

Studer kehrte zu seinem Grog zurück. Die Verbindungstür fiel zu.

Im kleinen Zimmer zog sich Studer aus. Dann trat er, im Pyjama, ans offene Fenster und blickte über das stille Land. Der Mond war sehr weiß, manchmal zogen Wolken vor ihm vorbei, das Roggenfeld war merkwürdig bläulich ...

Und der Wachtmeister erinnerte sich an einen guten Bekannten, mit dem er einmal in Paris zusammengearbeitet hatte. Madelin hieß er und war Divisionskommissär bei der Police judiciaire gewesen. Ein magerer, gemütlicher Mann, der unglaubliche Mengen Weißwein vertilgen konnte, ohne betrunken zu werden. Als Extrakt seiner zwanzigjährigen Diensterfahrung hatte er Studer einmal folgendes gesagt:

»Studer (er sagte ›Stüdère‹), glaub mir: Lieber zehn Mordfälle in der Stadt als einer auf dem Land. Auf dem Land, in einem Dorf, da hängen die Leute wie die Kletten aneinander, jeder hat etwas zu verbergen ... Du erfährst nichts, gar nichts. Während in der Stadt ... Mein Gott, ja, es ist gefährlicher, aber du kennst die Burschen gleich, sie schwatzen, sie verschwatzen sich... Aber auf dem Land! ... Gott behüte uns vor Mordfällen auf dem Land ...«

Studer seufzte. Der Kommissär Madelin hatte recht.

Und dunkel bohrte in ihm noch der Vorwurf, daß er es unterlassen hatte, den Browning mit der nötigen Vorsicht zu behandeln. Vielleicht hätte man doch Fingerabdrücke darauf feststellen können? Aber was hätte das genützt? Er konnte doch nicht den Lehrer Schwomm oder gar den Gemeindepräsidenten Aeschbacher mit einem Tintenkissen und Formularen besuchen und sie freundlichst bitten, doch die Güte zu haben und ihre werten Fingerspitzen auf diesen amtlichen Papieren zu verewigen ... Gewiß, es gab ja andere Methoden, sich Fingerabdrücke zu verschaffen: Zigarettendosen ‒ aber Studer rauchte keine Zigaretten, und dann waren diese Methoden alle so kompliziert. In Büchern machten sie sich gut, in Spionagebureaux schien man manchmal Erfolg mit ihnen zu haben ... aber in der Wirklichkeit? ... Studer nieste und ging ins Bett...

‒ ‒ ‒ Er saß in einem riesigen Hörsaal, eingezwängt in eine schmale Bank. Der Deckel des Pultes vor ihm drückte ihn schmerzhaft auf den Magen, er konnte die Beine nicht strecken. Die Luft im Raum war stickig, er konnte nicht recht atmen. Vor einer schwarzen Wandtafel ging ein Mann in weißem Mantel rastlos auf und ab. Er sprach. Und auf die Wandtafel war mit Kreide ein riesiger Daumenabdruck gezeichnet. Die Linien darin bildeten verrückte Muster, Schleifen, Spiralen, Berge, Täler, Wellen. Gerade Striche waren von den einzelnen Linien aus gezogen, ragten über den Abdruck hinaus und trugen an ihrem Ende Nummern. Und der Mann, der vor der Tafel hin und her lief, zeigte auf die Nummern und dozierte: »Von der Wiege bis zum Grabe bleiben die Kapillaren identisch, merken Sie sich das, meine Herren, und wenn zwölf Punkte übereinstimmen, so haben Sie den mathematischen Beweis. Dies ist der Daumen, meine Herren, der Daumenabdruck eines Mannes, der durch die Unachtsamkeit eines Beamten verlorengegangen ist und den ich nach meiner neuen Methode des fernen Wellensehens zur restitutio ad integrum gebracht habe. Der Schuldige sitzt zwischen Ihnen, ich will ihn nicht nennen, denn er ist gestraft genug. Er wird in Pension gehen müssen und in seinem Lebensalter verhungern, denn er hat pflichtvergessen gehandelt. Denn dieser Daumen, meine Herren und Damen ...« In der ersten Bankreihe saß Sonja Witschi, sie trug ein weißes Kleid und blickte mit Verachtung auf Studer. Das schmerzte Studer sehr. Am meisten aber tat ihm weh, daß der Gemeindepräsident Aeschbacher neben Sonja saß und seinen Arm um die Schultern des Mädchens gelegt hatte. Studer wollte sich unter der Bank verstecken, er fühlte, daß die Blicke aller Zuhörer auf ihn gerichtet waren, er konnte nicht, die Bank war zu eng ... Da stand plötzlich in der Tür des Saales der Polizeihauptmann und sagte laut: »Hast dich wieder blamiert, Studer? Komm her, komm sofort her...« Studer zwängte sich aus der Bank, Sonja und Aeschbacher lachten ihn aus, der Herr im weißen Mantel war plötzlich der Lehrer Schwomm, und er sang: »Das ist die Liebe, die dumme Liebe ...« Aeschbacher hatte noch immer seinen Daumen aufgereckt, der wuchs und wuchs, schließlich war er so groß wie die Zeichnung auf der Tafel... »Poroskopie«, rief der Lehrer Schwomm im Arztkittel, »Daktyloskopie!« schrie er. Und am Fenster stand der Kommissär Madelin, sah böse drein und fluchte: »Haben Sie Locard vergessen, Stüdère, fünfzehn und sechs und sechs und elf Punkte, das war zur Überführung genügend im Falle Desvignes. Und im Falle Witschi? ... Alles vergessen, Stüdère? Schämen Sie sich.« Der Polizeihauptmann aber zog ein Paar Handschellen aus der Tasche und fesselte Studer. Dazu sagte er: »Aber ich zahl’ dir keinen Halben Roten im Bahnhofbuffet. Ich nicht!« Studer weinte, er weinte wie ein kleines Kind, die Nase stach ihm, er zottelte hinter dem Polizeihauptmann her. Auf dem Rücken des Mannes, ganz nah vor Studers Augen, hing eine weiße Tafel. Darauf war wieder der Daumenabdruck. Und darunter stand in dicker Rundschrift: »Keine Tannennadeln, aber ein verlorengegangener Abdruck...« Dann saß Studer in einer Zelle, zwei Betten waren darin. Auf dem einen lag der Schlumpf, eine blaue Zunge hing ihm aus dem Mund. Auch er hielt den Daumen der Rechten aufgereckt und blinzelte mit den Lidern Er erhob sich, immer noch hing die Zunge aus seinem Mund, er schritt auf Studer zu, stand vor ihm und wollte ihm den Daumen ins Auge stoßen. Studer war gefesselt, er konnte sich nicht wehren, er schrie... ---

Der Mond schien ihm in die Augen. Sein Pyjama war feucht, er hatte ausgiebig geschwitzt. Lange blieb er wach liegen. Der Traum wollte sich nicht verscheuchen lassen und Studer hatte Angst, wieder einzuschlafen. Es war nicht der Daumen, der riesige Daumenabdruck, der ihn beschäftigte. Merkwürdigerweise wurde er das andere Bild nicht los, das er im Traume gesehen hatte: Aeschbacher, der seinen Arm um Sonjas Schultern gelegt hatte und ihn auslachte...

Es war still draußen. Gerzensteins Lautsprecher schwiegen.