Das Haus stand abseits auf einer Anhöhe, inmitten einer kleinen Wohnkolonie, aber es war älter als die Bauten, die es umgaben. Die Ladentüre war neben der Eingangstüre, links; daneben lag eine Art offener Veranda, an deren Hinterwand sich ein gemalter See vor Schneebergen ausbreitete, und die Schneeberge waren rosa, wie wässeriges Himbeereis. Über der Türe prangte in verschnörkelter Schrift der Spruch:
Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein!
Unter den Fenstern des ersten Stockes in blauer Farbe der Name des Hauses:
Alpenruh
Über dem Schaufenster des Ladens, in dem bunte Maggiplakate verblaßten, ein Schild, das ebenfalls verwittert war:
W. Witschi-Mischler, Lebensmittelhandlung.
Der Garten war verlottert, hohes Unkraut stand zwischen den Erbsen, die nicht aufgebunden waren. An einer Hausecke lehnte ein verrosteter Rechen.
Auf dem ganzen Weg hatte Studer geschwiegen und gewartet, ob das Mädchen beginnen würde zu sprechen. Aber auch Sonja hatte geschwiegen. Nur einmal hatte sie schüchtern gesagt: »Ich hab heut’ morgen im Zug schon gedacht, daß Ihr von Bern kommt wegen dem Schlumpf, daß Ihr von der Polizei seid...« Studer hatte genickt, gewartet, was noch weiter kommen werde. »Und wie ich gesehen hab’, Ihr geht zu der Frau Hofmann in den Laden, hab ich den Onkel Aeschbacher geholt. Die Frau Hofmann ist eine gar Schwatzhafte ...«
Studer hatte schweigend die Achseln gezuckt. Die ganze Geschichte ließ sich plötzlich schlecht an. Er wünschte, er hätte mit dem Landjäger Murmann am Morgen eingehender gesprochen.
Der Lehrer Schwomm und der Coiffeurgehilfe Gerber, dachte er ‒ Gerber hieß also der Jüngling, der John-Kling-Romane las und sich Füllfederhalter schenken ließ ‒, diese beiden waren in der Küche der Frau Hofmann gewesen. Und Sonja ... Und der Schlumpf natürlich.
Wer hatte den Revolver versteckt? Warum war er gerade an diesem Platz versteckt worden? Hatte man gehofft, Frau Hofmann werde ihn finden und damit zur Polizei laufen? Angenommen, Frau Hofmann hätte ihn gefunden, dann hätte sie ihn natürlich in die Hand genommen und neugierig, wie Frauen einmal sind, untersucht. Dann wäre selbstverständlich kein Fingerabdruck mehr festzustellen gewesen. Also war es nicht so arg, so tröstete sich Studer, daß er den Browning so ohne Vorsichtsmaßnahmen einfach eingesteckt hatte ... Schade, daß er Frau Hofmann nicht gefragt hatte, wann der Schlumpf am Dienstagabend oder vielmehr in der Dienstagnacht heimgekommen war... Aber eigentlich war diese Frage nicht nötig, die Antwort stand sicher in den Akten, richtig, Studer erinnerte sich an eine Seite, auf der stand:
»Frau Hofmann gibt auf Befragen an, der Angeklagte sei in der Mordnacht erst gegen ein Uhr heimgekommen ...« Studer schüttelte den Kopf. Merkwürdig, daß diese belastende Tatsache ihn so gar nicht interessierte. Es war alles zu einfach aufgebaut: Ein Vorbestrafter, der einen Mord begeht, der natürlich kein Alibi hat, bei dem das Geld des Ermordeten gefunden wird, der nicht reden will, aber seine Unschuld beteuert, der einen Selbstmordversuch begeht ... Es schmeckte ‒ ja, das Ganze schmeckte nach einem schlechten Roman...
Aber natürlich, der unschuldig Schuldige, das war in diesem Fall eine recht reale Figur, ein Mensch, dem es schlecht gegangen war, der wieder eine Zeitlang auf den geraden Weg gekommen war, und der nun ... Was hatte der Schlumpf in der Freizeit gelesen? Etwa auch Felicitas Rose? Oder John Kling? Eigentlich wäre das ganz interessant festzustellen. Das kleine Mädchen wußte es sicher, das Mädchen, das teure Füllfederhalter verschenkte ... Hatte es eine Liebschaft mit dem Coiffeurgehilfen Gerber? Es sah eigentlich nicht so aus ... Aber warum dann das teure Geschenk? ... Der Füllfederhalter... Ja ... Man trug den Füllfederhalter gewöhnlich in der linken Brusttasche des Rockes oder in der oberen Westentasche. Man nahm ihn mit, besonders wenn man Bestellungen sammeln ging. Hatte ihn der Wendelin Witschi am Dienstag auch mitgenommen? ... Doch wann hatte er ihn seiner Tochter gegeben? ... Die Taschen des Wendelin Witschi waren leer und auf dem Rücken seines Rockes hafteten keine Tannennadeln ...
Die Beiden betraten die Küche ... Im Schüttstein unaufgewaschenes Geschirr... Auf dem Tisch stand ein Teller, Butter darauf, daneben lag ein Kamm.
Studer war allein, Sonja war verschwunden...
Durch eine offene Tür betrat der Wachtmeister das anliegende Zimmer. Die Vorhänge vor den Fenstern waren grau, auf dem Klavier lag eine Staubschicht. Die Tür fiel zu. Es zog in diesem Haus. Durch die Erschütterung des Zuschlagens löste sich von dem Bilde, das über dem Klavier hing, eine graue Wolke ab. Das Bild stellte den seligen Wendelin Witschi vor, in jungen Jahren, und war wohl bei der Hochzeit aufgenommen worden. Zwischen den Spitzen des steifen Umlegkragens lugte ein kleiner schwarzer Kopf hervor. Der Schnurrbart war schon damals traurig gewesen. Und die Augen...
Auf dem Tische, der eine Decke mit Fransen trug, rot-gelb-blau lagen viele Hefte. Auch das schwere schwarze Büfett war mit Heften überdeckt.
Studer blätterte in den Heften. Sie waren alle von der gleichen Art: Bilder von Hunden oder von Kindern, eine Bergkapelle, ein Roman, Winke für die Hausfrau, graphologische Ecke. Und, auffällig, auf allen Titelblättern:
»Wir versichern unsere Abonnenten ... Bei Ganzinvalidität oder Tod zahlen wir aus ...«
Fünf verschiedene Sorten Hefte. Wenn alle die Versicherung auszahlten, ergab das ... es ergab eine ganz stattliche Summe ... Und was hatte der Notar Münch gesagt? Der alte Ellenberger habe Schuldbriefe und wolle sie kündigen?
Im oberen Stockwerk liefen Schritte auf und ab. Was machte Sonja dort oben, warum ließ sie ihn allein in der Wohnung? Es wurde ein schwerer Gegenstand gerückt. Studer lächelte. Das Mädchen machte wohl die Betten, jetzt am Abend. Eine merkwürdige Ordnung herrschte in der Familie Witschi .. .
Studer blätterte weiter in den Heften. Er stieß auf ein paar Stellen, die angestrichen waren und las:
»Da stieg es in ihr auf, heiß und brennend. Sie warf sich in seine Arme, sie umklammerte seinen Hals, als sollte sie ihn nie, nie mehr loslassen ...«
Und weiter:
»Und wir, Sonja, mein süßes Lieb, mein holdes Weib ‒ wir werden glücklich sein ...«
»Leichenblaß bis in die Lippen, bebend an allen Gliedern, stand Sonja vor ihm ...«
Studer seufzte. Er dachte an lauen Kaffee und an eine Frau, die am Morgen schmachtend war, weil sie in der Nacht zu viele Romane gelesen hatte...
Dann trat der Wachtmeister ans schwere Büfett. Gerade unter der Photographie des Wendelin Witschi stand oben auf dem Aufsatz eine Vase mit wächsernen Rosen und einigen Zweigen bunten Herbstlaubs. Und Witschi schien auf diese Vase zu schielen. Gedankenlos hob sie Studer herab, sie war merkwürdig schwer ‒ übrigens war das Herbstlaub auch künstlich. Studer schüttelte die Vase. Es rasselte. Er kehrte die Vase um ...
Zwei, vier, sechs, zehn ‒ fünfzehn Patronenhülsen fielen heraus, Kaliber 6,5 ...
Im oberen Stock war es still geworden. Studer steckte eine der Hülsen in seine Rocktasche, die andern ließ er in die Vase zurückgleiten, ordnete den Strauß und stellte ihn an seine alte Stelle. Es kamen Schritte die Treppe herunter. Studer öffnete die Küchentür und blieb auf der Schwelle stehen.
Der Herr Wachtmeister müsse entschuldigen, sagte Sonja, sie habe oben noch Ordnung machen wollen, wenn er das Haus besichtigen wolle? Die Mutter komme erst nach dem Neun-Uhr-Zug heim, so lange müsse sie auf dem Bahnhof bleiben... Aber der Armin werde bald zurück sein.
Sonja plapperte und wich Studers Blick aus; aber sobald Studer beiseite sah, fühlte er, wie die Augen des Mädchens auf sein Gesicht gerichtet wurden, sah er wieder hin, klappten die Lider über die Augen. Lange Wimpern hatte das Mädchen. Die Stirn war gerundet, sprang ein wenig vor. Die Haare waren gebürstet. Sonja sah viel ordentlicher aus als heut morgen im Zuge.
‒ Übrigens lasse der Schlumpf sie grüßen, sagte Studer nebenbei. Er sah zum Fenster hinaus. Am Ende des Gemüsegartens stand ein alter, verfallener Schuppen. Die Tragstützen des Daches waren eingeknickt, einige Ziegel fehlten. Auch die Tür des Schuppens fehlte.
Sonja schwieg. Und als Studer sich umwandte, sah er, daß das Mädchen weinte. Es war ein hemmungsloses Weinen, das kleine Gesicht war verzogen, um die spitz vorspringende Nase gruben sich tiefe Falten ein, die Lippen waren verzerrt, und aus den Augen flossen die Tränen die Wangen herab, blieben am Kinn haften, tropften dann auf die Bluse. Die Hände waren geballt.
»Aber, Meitschi«, sagte Studer, »aber Meitschi! ...« Unbehaglich wurde es ihm zumute. Schließlich fiel ihm nichts anderes ein, als sein Schnupftuch aus der Tasche zu ziehen, neben Sonja zu treten und ungeschickt die fließenden Tränen aufzutupfen.
»Komm, Meitschi, komm, hock ab ...«
Sonja hatte sich an den Wachtmeister gelehnt, ihr Körper zitterte, die Schultern waren weich. Studer seufzte grundlos. »Komm, Meitschi, komm ...«
Sonja setzte sich auf einen Stuhl. Ihre Arme lagen lang ausgestreckt auf der Tischplatte neben dem Teller mit dem Anken, neben dem Kamm...
Draußen wurde die Dämmerung dicht. Studer hatte wenig Zeit. Um halb acht Uhr sollte er bei Murmann zum Nachtessen sein...
Sonja dauerte ihn. Er wollte sie nicht ausfragen ..: Ihr Vater war tot, ihr Liebster saß in einer Zelle, tagsüber ging sie nach Bern schaffen, ihr Bruder ließ sich von einer Kellnerin Geld geben, und ihre Mutter las im Bahnhofkiosk Romane...
»Der Erwin«, sagte Studer sanft, »der Erwin hat mir gesagt, er lasse dich grüßen ...«
»Und glaubet Ihr, daß er schuldig ist?«
Studer schüttelte stumm den Kopf. Einen Augenblick lächelte Sonja, dann kamen die Tränen wieder.
»Er wird’s nicht beweisen können, daß er unschuldig ist ...«, sagte sie schluchzend.
»Hast du ihm das Geld gegeben?«
Merkwürdig, wie ein Gesicht sich verändern konnte! ... Sonja blickte starr vor sich hin, zum Fenster hinaus, in die Richtung, wo der alte, verfallene Schuppen stand, dessen Eingang ein schwarzes Rechteck war ... Und schwieg.
»Warum hast du dem Gerber, dem Coiffeur, den Füllfederhalter geschenkt?«
»Weil ... weil ... er etwas weiß ...«
»So, so«, sagte Studer.
Er hatte sich an den Tisch gesetzt, das Hockerli war zu klein für seinen schweren Körper, er fühlte sich ungemütlich.
‒ Ob sie schon lange in dem Hause wohnten? fragte er. ‒ Der Vater habe es bauen lassen mit dem Geld der Mutter, erzählte Sonja, und es schien, als sei sie froh, sprechen zu können. Der Vater sei bei der Bahn gewesen, als Kondukteur, und dann habe die Mutter eine Erbschaft gemacht. Die Mutter stamme von hier, aus Gerzenstein, der Vater sei aus dem Seeland gewesen. Die Mutter habe den Laden eingerichtet und der Vater habe weiter auf der Bahn geschafft. Während dem Krieg sei das Geschäft gut gegangen, es hätte damals noch wenig Läden gegeben in Gerzenstein. Da habe sich der Vater pensionieren lassen. Vielmehr, er sei einfach ausgetreten und habe auf die Pension verzichtet, weil er einen Herzfehler gehabt habe, und sie hätten ihm auf der Bahn Schwierigkeiten gemacht. Ja, während dem Krieg sei es gut gegangen. Der Armin habe später aufs Gymnasium können nach Bern, nachdem er hätte studieren sollen. Aber dann sei der große Bankkrach gekommen und die Eltern hätten alles verloren. Und dann sei es aus gewesen. Die Mutter sei hässig geworden und der Vater sei reisen gegangen. Aber er habe wenig verdient. Und alles sei so teuer! ... Die Mutter könne nicht mit dem Geld wirtschaften, sie gebe immer alles aus für Medizinen und solches Zeug. Der Onkel Aeschbacher sei ein- oder zweimal eingesprungen ... Die letzten Worte waren sehr stockend herausgekommen.
»Was ist’s mit dem Onkel Aeschbacher?« fragte Studer. Schweigen...
»Und doch bist du ihn holen gegangen, wie du mich hast zur Frau Hofmann gehen sehen?«
Viel Qual drückte das Gesicht aus. Studer hatte Mitleid. Er wollte nicht weiter fragen. Nur eines noch:
»Wer ist der Lehrer Schwomm?«
Sonja wurde rot, holte Atem, wollte sprechen, die Stimme versagte, sie hustete, suchte nach einem Taschentuch, wischte sich die Augen mit dem Handrücken, stotterte dann:
»Er ist an der Sekundarschule, er ist Gemeindeschreiber, auch Sektionschef, und den gemischten Chor leitet er auch...«
»Dann hat er viel mit dem Gemeindepräsidenten zu tun? Mit dem ›Onkel‹ Aeschbacher?«
Sonja nickte.
»Leb wohl.« Studer streckte ihr die Hand hin. »Und wein’ nicht. Es kommt schon besser.«
»Lebet wohl, Wachtmeister«, sagte Sonja und streckte ihre kleine Hand aus. Die Nägel waren sauber.
Sie stand nicht auf und ließ Studer allein hinausgehen. Im Hausgang blieb Studer stehen und suchte nach seinem Schnupftuch, fand es nicht, erinnerte sich, daß er es in der Küche gebraucht hatte, kehrte an der Haustüre um und betrat, ohne anzuklopfen, die Küche.
Sie war leer. Die Tür zum andern Zimmer war offen... Vor dem schweren schwarzen Büffet stand Sonja. Sie hielt die Vase mit den Wachsrosen und dem künstlichen Herbstlaub in der Hand und schien das Gewicht der Vase zu prüfen. Ihre Augen waren auf das Bild des Vaters gerichtet.
Auf dem Boden neben dem Küchentisch lag Studers Nastuch.
Studer ging leise zum Tisch, hob es auf, schlich zur Türe zurück:
»Gut’ Nacht, Meitschi«, sagte er.
Sonja fuhr herum, stellte die Vase ab. Sie riß sich zusammen:
»Gut’ Nacht, Wachtmeister...«
Merkwürdig, ihr Blick erinnerte Studer an den des Burschen Schlumpf: Erstaunen lag darin und viel verstockte Verzweiflung.